Mittwoch, 19. Juni 2013

Türkische Protestler und deutsch-türkische Vergleiche

Mittlerweile bekommt man es in den Kommentarspalten und Leserbriefen recht oft zu lesen: die Demonstranten in der Türkei seien randalierende Brandstifter und Plünderer, darum sei es gerechtfertigt, dass die Polizei durchgreift. Außerdem sei es in Deutschland und der EU auch nicht anders.
Und je öfter das wiederholt wird, desto mehr scheinen das zu glauben. Die Leute, die in Frankfurt während der Blockupy-Nummer eingekesselt wurden sehen sich als Opfer wenigstens der gleichen Polizei-Gewalt wie jene Protestierenden in der Türkei. Wer dann noch Zweifel anmeldet erhält den eskalierten Polizeieinsatz im Schlosspark von Stuttgart um die Ohren gehauen, gelegentlich noch die Proteste in London letztes Jahr und in Paris vor einigen Jahren - ganz schlaue Füchse verweisen auf die schweren Krawalle in Schweden vor wenigen Wochen.

Und wenigstens hier will ich dazu einmal klar und stinksauer wie ich bin Stellung nehmen: euch geht die Welt am Hintern vorbei, ihr Egomanen!
In der Türkei sitzen seit Jahren unzählige Journalisten im Knast, weil sie es wagten kritische Berichte zu verfassen. Andere Journalisten wie Hrant Dink wurden auf offener Strasse attackiert und schlimmstenfalls ermordet.
Die Anwälte der mittlerweile in die hunderte gehenden Verhafteten werden behindert oder sogar verhaftet. Im Fall der Kurden war dies bereits letztes Jahr so.
Sanitäter und Ärzte werden von der Polizei angegriffen, von der Regierung aufgefordert Demonstranten nicht zu helfen (nur mal am Rande: das ist die Vorstellung von Barmherzigkeit in einer islamischen Partei) und die Zahl der Verletzten geht in die tausende.
Dazu kommen MEHRERE TOTE und SCHWERSTVERLETZTE.
Erdogan beschimpft offen diese Menschen und beschuldigt sie des Landesverrates, verfolgungswahnt etwas von ausländischen Mächten. Was in der Türkei auf Landesverrat steht kann ich nur spekulieren, vergleichbar mit deutschen Strafen und deren Verhältnissen dürfte es jedenfalls nicht sein.

Also kneift endlich mal die Backen zusammen und schluckt euer "uns trifft es immer viel schlimmer als alle anderen" runter und seid doch mal zwei Minuten dankbar, dass nach der erkennungsdienstlichen Behandlung die Türen bei unserer Polizei selbst für solche Demonstranten offen stehen, die mit Steinen geworfen haben und so ernste Verletzungen in Kauf nahmen. Obwohl von linken Politikern bis bestimmten Journalisten jetzt eine Mörderwelle wegen angeblicher Polizeigewalt bei den Protesten in Frankfurt Anfang Juni geschoben wird, inklusive Anzeige, ist an mein Ohr nichts über dutzende Verletzte, Reizgaswolken in den Strassen und Gewaltandrohungen gedrungen.
Von verhafteten Anwälten, unterdrückter Berichterstattung oder attackierten Ärzten hört man ebenso nichts.
Im Gegenteil. Die regelmäßigen Exzesse am 1. Mai und bei bestimmten Strassenfesten in Hamburg, Bremen usw. bei denen die Polizisten vom Steinwurf bis zum Molotovcocktail mit allem bedacht werden, was die türkische Polizei derzeit abkriegt haben zu immer weitgreifenderen "Deeskalationsstrategien" geführt. Tote gab es bereits seit Jahren nicht und Gummigeschosse wären vielleicht in London und Stockholm hilfreich gewesen die Ausschreitungen schneller zu beenden, wurden aber aus Rücksicht auf Gesundheit und Leben der Randalierer eben nicht eingesetzt. Und unsere Presse? Die berichtet über solche Vorgänge immer erst dann, wenn die Polizei einschreitet - aber nur um dieser auf die Finger zu schauen.

Einzig Stuttgart lasse ich als Argument gelten. Aber nur bedingt. Von jenem durch den Wasserstrahl  erblindeten Senioren weiß man mittlerweile, dass er nicht nur mehrfach von den Beamten abgeführt wurde - er kam wie bei uns aber eben nicht in der Türkei üblich sofort wieder auf freie Füße - sondern sich ebenso oft wieder mitten in den Strahl stellte. Nicht ohne seinerseits nach den Beamten zu werfen. Die Polizei hat hier zweifellos völlig unangemessene Härte gezeigt. Aber dieses Extrembeispiel zeigt auch: die Dimensionen stehen noch weit hinter dem, was die unzufriedenen und teilweise unterdrückten oder sogar diskriminierten Türken (Kurden, Juden, Christen...) gerade durchleben. Kein Arzt wurde in Stuttgart attackiert, keine Rauchschwaden nahmen trotz Masken Luft und Orientierung, keine Polizeikommandos hetzten die Demonstranten durch ganz Stuttgart, niemand starb...

Zeigt mal ein wenig von dem Respekt und der Menschlichkeit, die ihr angeblich stets so vermisst und erkennt die Leistungen und das Leid der türkischen Demonstranten an. Ich hätte nicht so viel Schneid nach den Drohungen und Erlebnissen nochmal auf den Taksim zu gehen.

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